Samstag, 7. Mai 2016

Wer sind eigentlich "wir", die diskutieren, ob der Islam zu Deutschland gehört?


Vortrag auf der re:publica 2016 – Kübra Gümüşay: Organisierte Liebe


Hier ein Transkript der ersten Hälfte von Kübra Gümüsays Vortrag. Wo "wir" mal darüber reflektieren dürfen, wer "wir" sind, wenn "wir" darüber diskutieren, ob Muslime und/oder der Islam zu Deutschland gehört. Und wer damit schon mal alles offensichtlich nicht "wir" ist. Egal, ob eingebürgert oder hier geboren, ob halb oder ganz deutsch. Und was "die" wohl tun können, um irgendwann zum "wir" zu gehören. Oder ob "wir" da vielleicht tätig werden müssten!

"[...]
Ich frage mich mehrmals täglich, ob wir eine Zukunft haben in diesem Land. Jeden Tag entscheide ich mich für die Hoffnung. Jedes Mal leider mit etwas weniger Hoffnung. Die Themen, die Rechtspopulisten, AFDler, Rassisten in unsere gesellschaftliche Mitte setzen, stellen unsere, meine, Existenz, Daseinsberechtigung in Frage.

Wir können diese Menschen und ihren Hass nicht ignorieren. Wir müssen sie ernst nehmen. Damit meine ich nicht dass, was wir seit knapp zwei Jahren tun, nämlich, die Sorgen und Ängste der Wutbürger lang und breit zu diskutieren. Sondern ihnen endlich Einhalt zu gebieten.

Man kann jede Frage in diesem Land stellen. Aber wir müssen nicht jede gottverdammte Frage diskutieren. Wir müssen nicht noch einmal diskutieren, ob der Islam und die Muslime zu Deutschland gehören. Was ist das für eine Frage? Sind wir uns dessen bewusst, was wir in dem Moment in Frage stellen?

Was ist das für eine Frage? Mit welcher Berechtigung diskutieren wir diese Frage? Sind wir uns dessen bewusst, was wir in diesem Moment in Frage stellen? Unsere Existenz, hier, in diesem Land. Ob wir hier leben, existieren dürfen, ob wir dazugehören. Das stellen wir zur Diskussion. Und ich frage mich: Was, wenn wir irgendwann entscheiden: Nein. Was, wenn die Antwort "Nein" lautet? Was ist dann?

Ich habe keine Lust mehr stark zu tun. Ich habe keine Lust mehr, diese Fragen auszuhalten. Ich bin 27 Jahre alt. Fünfzehn Jahre, über die Hälfte meines Lebens, habe ich damit verbracht, diese Fragen zu beantworten. Zu verteidigen, zu erklären, meine Existenz zu rechtfertigen. Eine ganze Generation junger Menschen, Schwarzer, Muslime, POCs, hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu verteidigen, zu erklären, zu kommunizieren. Statt KünstlerInnen, MusikerInnen, ÄrztInnen, LehrerInnen oder einfach nur Menschen zu sein, sind wir zu PressesprecherInnen geworden.

Es ist leicht, diese Themen auszublenden, wenn man nicht von ihnen betroffen ist. Wir Schwarze, POC, Muslime, Menschen mit Migrationshintergrund, alle, die als anders markiert sind, wir können das nicht tun. Wir können nicht so tun, als gäbe es diese Diskussionen und Fragen nicht.

Eine AFD zu ertragen und zu ignorieren, ist ein Privileg, das Schwarze und People of Colour nicht haben. Diese Diskussionen, die wir führen, sind für einige Kolumnisten oder Denker womöglich nur Buchstaben, die sich auf ihren Bildschirmen zu Worten und Texten formen, abstrakte Gedanken, die sie in Schwarz und Weiß gießen. Für uns sind diese Diskussionen Realität. So real, dass wir sie anfassen können. Für den Rest der Gesellschaft wurde diese Diskussion erst real, als PEGIDA auf die Straße ging. Als sich diese mysteriöse Wolke des Rassismus mit einem Mal materialisierte. Dann erst war er für andere sichtbar
Ihr hab diese Gesichter zuvor nicht gesehen. Denn Euch haben diese Gesichter zuvor angelächelt.
Zu Euch waren sie vielleicht freundlich, gar zuvorkommend. Die hasserfüllten Gesichter, unsere Realität, waren für Euch zuvor unsichtbar. Viele reagierten damals erschrocken und sie reagierten richtig. Gut. Stark. Indem sie in Massen auf die Straße gingen. In viel größeren Massen als PEGIDA selbst. Das machte und macht mir Hoffnung.

"The function, the very serious function of racism, is distraction. It keeps you from doing your work. It keeps you explaining, over and over again, your reason for being. Somebody says, you have no language, so you spend 20 years proving that you do. Somebody says your head isn't shaped properly, so you have scientists working on the fact that it is. Someone says you have no art, so you dredge that up. Somebody says you have no kingdoms, so you dredge that up. None of that is necessary. There will always be one more thing." Zitat von Toni Morrison

Ich habe keine Lust mehr, Putzfrau der Nation zu sein. Den Gedankendreck anderer zu putzen, immer und immer wieder. Auf jeden Vorwurf zu reagieren. Selbstverständlichkeiten zu beweisen. Wie dass Muslime auch nur Menschen sind. Beweisen, dass wir demokratisch und liberal sein können, dass wir dazugehören, hierher gehören

Ich bin es leid, im Kollektiv denken zu müssen. Jede meiner Handlungen und Aussagen fällt auf alle anderen in meinem Kollektiv zurück. Muslime, Schwarze, POCs können niemals "Ich" sein, sie sind immer nur "wir". Sie können nicht für sich sprechen, ohne für alle anderen in ihrem Kollektiv zu sprechen.

Meine zentrale Lebensaufgabe ist es nicht, anderen hinterherzuräumen. Ständig etwas Hirnrissiges, dass sie fahrlässig oder vielmehr bewusst und hasserfüllt in die Welt gespuckt haben, sauberzuwischen.

Seid Euch bewusst, welcher Kraftakt das ist. Mit welchem Bewusstsein eine Generation junger Menschen heranwächst. Welche Signale wir ihnen senden.

Fakt ist, wir können es uns nicht mehr leisten, leise zu sein. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten. Im letzten Jahr gab es mehr als 520 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, darunter 120 Brandanschläge, das entspricht 10 pro Monat.

Deshalb müssen wir Liebe organisieren. Denn der virtuelle Hass ist real  [...]"

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